Nr. 2023 | 2
Literalität und nachhaltige Entwicklung
Das Schweizer Bildungssystem und sein gesellschaftlicher und kultureller Kontext durchlaufen derzeit wichtige Veränderungen im Zusammenhang mit der Bildung für nachhaltigen Entwicklung (BNE). So wird beispielsweise auf der Ebene der Maturitätsschulen unter der Leitung der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) ein neuer Rahmenlehrplan erarbeitet. Damit die Schule auch in Zukunft den Anforderungen von morgen im Kontext der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht werden kann, zielt dieser neue Lehrplan darauf ab, die aktuellen Fragestellungen, die insbesondere mit der nachhaltigen Entwicklung zusammenhängen, in einer zugleich interdisziplinären und disziplinären Perspektive zu integrieren. Zum ersten Mal soll ein Bildungsauftrag in alle Schulfächer, auch in die Schulsprache, integriert werden. Mehr
Die Literatur befasst sich seit langem mit der Beziehung zwischen Mensch und Natur (Buekens, 2020). Indem sie uns als Leserinnen und Leser in selbst erlebte oder fiktive Umwelterfahrungen eintauchen lässt, gibt sie uns Anlass, die Natur zu beobachten und mit ihr in Beziehung zu treten. Darüber hinaus führt sie uns durch ihre polyphone Darstellungsweise dazu, die Komplexität der Beziehungen zwischen uns und der Welt und damit die Pluralität der Sichtweisen auf ein und dasselbe Thema zu berücksichtigen. Die Literatur bietet damit interessante Möglichkeiten, um diese Fragen im schulischen Kontext aus sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Sicht zu beleuchte. Dies bringt aber auch Spannungen mit sich, die in mindestens drei Bereichen zu finden sind:
Der erste Bereich ist disziplinär und betrifft die literarischen Korpora. Wie lässt sich der Aufbau einer literarischen Kultur, die auf dem histzorischen Erbe beruht, mit den meist zeitgenössischen Werken zu diesem Thema vereinbaren? Dabei geht es auch um die Verbindung von fachspezifischem und fächerübergreifendem Wissen. Wie sollen diese Wissensbestände ausbalanciert werden? Braucht es besondere didaktische Zugänge, um die transversalen Dimensionen des Lehrplans zu bearbeiten, ohne den Erwerb des fachspezifischen Wissens durch die Schüler:innen zu gefährden? Es stellt sich auch die Frage nach den Zielen in der Schulsprache: Geht es darum, eine gemeinsame Kultur und Sprache zu vermitteln, die Ausbildung und Eingliederung kompetenter Berufsleute zu ermöglichen oder das Denken der Bürgerinnen und Bürger des 21. Jahrhunderts zu stärken? Lassen sich diese Ziele innerhalb eines Schulfachs miteinander vereinbaren?
Der zweite Bereich bezieht sich auf Werte. Literatur ist eine intellektuelle und ethische Ressource, die es Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen ermöglicht, eine gemeinsame Kultur zu Fragen der nachhaltigen Entwicklung zu entwickeln, über die Grundwerte der Gesellschaft nachzudenken und in ihr eine aktive Rolle zu spielen. Wie lässt sich jedoch im schulischen Rahmen ein isolierter, schöngeistiger Diskurs überwinden? Wie kann man die Schüler:innen dabei stärken, eine aktive und kritische Haltung zu diesen Themen zu entwickeln, ohne dass sie in Angst vonökologischen Katastrophen verfallen? Und schliesslich: Wie können wir sie dazu anregen, über ihren Platz in der Welt, ihre Beziehung zu den Lebewesen und ihre Abhängigkeit von den anderen nachzudenken, Unterschiede und Vielfalt zu respektieren und aktiv problemlösend zu handeln?
Der dritte Bereich betrifft die Materialität der Texte selbst. Zwar lesen die Menschen auch heute noch Bücher, aber sie nutzen anstelle der Printmedien zunehmend digitale Medien wie Tablets, E-Books und Laptops. Dieser bedeutende Wandel der materiellen Aspekte des Lesens und Schreibens hat auch Auswirkungen auf die Bibliotheken als Orte, wo Bücher und andere Textmedien aufbewahrt und zugänglich gemacht werden, sowie auf die Arbeit von Lehrer:innen, Ausbilder:innen und Forscher:innen. Welche Bezüge bestehen zwischen der zunehmende Digitalisierung von Medien und nachhaltiger Entwicklung? Inwieweit widersprechen sich die beiden aktuellen Anforderungen nach einer Bildung für Nachhaltigkeit und einer digitalen Bildung?
Die Beiträge in dieser Ausgabe stammen aus der Forschung, der Praxis oder der Verbindung von Theorie und Praxis. Sie greifen diese Fragen auf und behandeln sie aus unterschiedlichen Perspektiven. Damit führen sie den Diskurs weiter, der an der von Anne Monnier und Carole-Anne Deschoux organisierten Tagung «Enseigner la littérature dans le souci de l'éducation à la durabilité» am 15. Februar 2023 an der Universität Genf angestossen wurde. Mehrere Autor:innen der vorliegende Nummer waren auch Beiträger:innen dieser Tagung.
Der Artikel von Marc Atallah und Christophe Ronveaux schlägt einen theoretischen Rahmen vor, um Bildung und nachhaltige Entwicklung im Fach Französisch anhand von Science-Fiction-Texten zu verbinden. Dieses Genre erweist sich als besonders geeignet für BNE, da ihre metaphorische Poetik dazu zwingt, die dargestellten Motive (Umweltkatastrophen, Roboter oder auch Transhumanismus) als fiktive Konstruktionen zu betrachten.
Camille Roelens' Überlegungen sind im Bereich der zeitgenössischen praktischen, politischen und moralischen Philosophie angesiedelt und behandeln aktuelle Fragen der allgemeinen und beruflichen Bildung in westlichen Demokratien. Die Autorin argumentiert gegen die weit verbreitete These, die technische und demokratische Hypermoderne führe zu einer Abschaffung des Buches und damit auch der Literatur. Anschliessend diskutiert sie die Relevanz informellerer Formen der Selbstbildung ausserhalb von Bildungsinstitutionen.
Felix Böhm fragt in seinem Artikel nach dem genuinen Beitrag des Deutschunterrichts zu Bildung für nachhaltige Entwicklung. Er zeigt zunächst programmatisch auf, wie sich die drei Kompetenzbereiche von BNE auf die Gegenstände des Deutschunterichts beziehen lassen. Anschliessend führt er anhand von drei unterschiedlichen Genres – Graphic novel, Rap track und Brettspiel – vor, wie das Thema BNE m Sprach- und Literaturunterricht bearbeitet werden kann.
Ingelore Mammes und Sabrina Jaskolka beleuchten in ihrem Beitrag einen spezifischen Aspekt von Bildung für nachhaltige Entwicklung: Geschlechterstereotype Berufsorientierungen von Kindern und Jugendlichen. Sie erläutern ihre Perspektive zunächst theoretisch und stellen dann verschiedene Bilderbücher vor, die vermitteln wollen, dass Berufswünsche nicht an Geschlecht und gesellschaftliche Normen geknüpft sein sollten.
Clara Yiting Lauer, Helen Fischer und Jakob von Au präsentieren in ihrem Artikel die Lernplattform Planet-N. Dieses digitale Angebot will Lehrpersonen dabei unterstützen, die Diskrepanz zwischen dem bildungspolitischen Ziel – Bildung für nachhaltige Entwicklung – und der konreten Umsetzung in allen Schulfächern zu überwinden. Ein zentrales Element der Plattform ist das interaktiven Storytelling, das die Lernenden dabei unterstützen soll, vom Verstehen zum nachhaltigen Handeln zu kommen.
Im Beitrag von Gabriela Gehr und Rolf Jucker geht es um das Lernen im Freien («Draussenlernen»). Die Autor:innen beleuchten zunächst auf einer konzeptionellen Ebene das grosse Pontenzial dieser Unterrichtsform für verschiedene Bildungsbereiche und die besondere Rolle der Sprache beim Aufbau mentaler Modelle. In einem ausführlichen Praxisbeispiel zeigen sie anschliessend ganz konkret, wie das lernen im Fachbereich Natur, Mensch und Gesellschaft eng mit sprachlichem Lernen verwoben ist.
Die didaktischen Überlegungen von Pascal Boninsegni und Anne Monnier werfen die Frage nach der Wahl der Korpora, Ziele und Aufgaben eines Unterrichts auf, der das Studium literarischer Texte mit der Reflexion über aktueller ökologischer Herausforderungen verbinden will. Die beiden vorgestellten didaktischen Konzepte - Lese- und Schreibtagebuch und Syntheseübung - demonstrieren das Potenzial der Kinderliteratur, Kompetenzen und Wissen über literarische Texte zu entwickeln und gleichzeitig die Bildung von Bürger:innen des 21. Jahrhunderts zu fördern, die sich auf demokratische Weise für ihren Planeten einsetzen.
Der Artikel von Barbara Siegrist befasst sich mit einem Unterrichtsprojekt auf der Sekundarstufe zur Untersuchung seltener und alter Manuskripte der Fabeln von la Fontaine, die im Rahmen des Bodmer Lab an der Universität Genf digitalisiert wurden. Siegrist zeigt insbesondere, wie der Zugang zu diesen digitalen Textformen Verknüpfungen des Literaturunterrichts mit Bildung für nachhaltigkeit Entwicklung ermöglicht. Dabei behandelt sie auch die Frage nach der materiellen Dimension dieser Texte.
Solène Humair stellt mit der«Tutothek» ein Projekt vor, das zwischen 2021 und 2022 von der Bibliothek Vevey im Kanton Waadt durchgeführt wurde. Es besteht aus einer Reihe von zehn Tutorial-Videokapseln, in denen Familien aus der Region gezeigt werden, die sich für verschieden Schritte hin zu einer ökologischeren Lebensweise entscheiden.
Die «Grainothek» ist ein Schulprojekt, das an einer Handelsschule im Kanton Genf durchgeführt wurde. Die Autorin Alexandra Muston beschreibt, wie auf Anregung der Mediathek eine Partnerschaft mehrerer Akteur:innen zustande kam, um in der Bibliothek eine «Grainothek» – eine Art Bibliothek der Pflanzensamen – einzurichten. Im Rahmen dieses Projekts wurden die Schüler:innen dazu motiviert, die Schulbibliothek und ihre Bücher zu entdecken.
Schliesslich beforschen Natalie Lavoie und Joane Deneault in einem weiteren Artikel das Schreiben mit Tastatur oder Bleistift in der Primarschule. Der Fokus liegt auf der Motivation der Schüler:innen und ihren Schreibleistungen. Die Autor:innen diskutieren auf der Grundlage ihrer Ergebnisse die Auswirkungen des Schreibwerkzeugs, aber auch die Einschätzung der Reichhaltigkeit von Texten durch die Forscher:innen.
Dieter Isler und Anne Monnier
Literatur
Buekens, S. (2020). Émergence d'une littérature environnementale. Droz.
CDIP. (2023). Actualisation du Plan d’études cadre de 1994.
https://matu2023.ch/fr/plan-d-etudes-cadre