Identität ist ein komplexes Konzept mit vielfältigen disziplinären Bezügen. Sie wird übereinstimmend als ein dynamischer und kontinuierlicher Prozess der Selbst-Konstruktion verstanden. Dabei orientieren sich Individuen an Identifikationsangeboten, bringen ihr Selbstverständnis zum Ausdruck und erfahren individuelle und gesellschaftliche Resonanz – sich selbst, anderen Individuen, bestimmten Gruppen oder der Öffentlichkeit gegenüber. Diese Selbst-Konstruktion ist dabei immer geprägt von sozialen und kulturellen Normen.
Literalität spielt bei der Herausbildung von Identität in einer Schrift- und Mediengesellschaft eine herausragende Rolle. Beim Lesen und Schreiben setzen sich Individuen mit dem Wissen, den Werten, der Ästhetik ihrer Lebenswelten auseinander. Sie kommunizieren mit anderen Individuen und erfahren dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Sie identifizieren sich mit sozialen Gruppen oder grenzen sich von ihnen ab. Durch den Vollzug literaler Praktiken finden und entwickeln sie ihre Sichtweisen und ihr Selbstverständnis.
Auch soziale Gruppen stellen sich mittels Schrift und anderen medialen Ausdrucksformen öffentlich dar. Sie bieten dem Individuum Identifikationsmöglichkeiten an und entwickeln in Diskursen ihre Gruppenidentitäten. Dabei entstehen Grenzlinien, die Zugehörigkeit und Ausschluss erzeugen. In einer durch vielfältige Differenzkategorien geprägten Welt stellt sich die Frage, wie sich Identitätsbildung jenseits von Ungleichheitsmechanismen vollziehen könnte. Mehr
In dieser Nummer von leseforum.ch werden Bezüge zwischen Identität und Literalität beleuchtet. Natascha Naujok untersucht die Bedeutung des Lesens und Schreibens in autobiografischen Texten von zukünftigen Kindheitspädagoginnen. Volker Frederking beschreibt, begründet und überprüft einen identitätsorientierten Literaturunterricht in Gymnasialklassen. Caroline Scheepers und Renaud Maes teilen ihre Analysen mit Studienanfängern, insbesondere die Auswirkungen des "differenzierenden" Schreibens auf die Konstruktion ihrer Identität. Laetitia Progin und Katja Vanini De Carlo untersuchen anhand des Konzepts der Herausforderung zwei Ausbildungsprogramme für Schulleitungspersonen, in denen das Lesen und die Produktion von Erzählungen gemeinsam an der Konstruktion der beruflichen Identität beteiligt sind. Léa Couturier, Carole-Anne Deschoux, Laetitia Mauroux, Sandrine Angeloz Huguenot und Stéphanie Burton beschäftigen sich mit Bibliothekar:innen und insbesondere mit ihrem Schreiben im Rahmen einer Weiterbildung, um herauszufinden, wie sie sich selbst definieren. Deli Salini untersucht die Prägung durch Märchenerzählungen bei der Förderung der Lesekompetenz und bei der Identitätsentwicklung von Erwachsenen. Anke Werani und Enrico Strathausen analysieren die Aushandlung von Ich- und Gruppenidentitäten in der Chatkommunikation. Das Schreiben über sich selbst stellt auch eine wichtige Dimension in der Arbeit und im Leben des Soziologen David Le Breton dar, als Raum der Weitergabe und der Versöhnung des Selbst mit den anderen. Und die Autorin Ivna Žic gibt in ihrem essayistischen Text persönliche Einblicke in das literarische Schreiben als Suche nach der eigenen Sprache und Weg zur Identitätsfindung.
Dieter Isler und Carole-Anne Deschoux